Überlieferung der Texte

Die Edition der Briefe Philipp Jakob Speners basiert auf einer sehr heterogenen Überlieferung, die sich in zwei Gruppen einteilen lässt: die Überlieferung auf Seiten des Empfängers und diejenige auf Seiten des Absenders.

Überlieferung auf Seiten des Empfängers

Nur ein Teil von Speners Briefen hat sich als Abfertigung erhalten, also in der Form, wie der Brief von Spener abgesandt und beim Empfänger angekommen ist (vgl. dazu Dresdener Briefe Bd. 1, S.XXIV). So haben vornehmlich die Gelehrten unter Speners Briefpartnern seine Briefe gesammelt und aufbewahrt. Von diesen sind die einen mit den alten Briefreposituren der Empfänger auf uns gekommen, andere sind als gesonderte Bestände aus diesen Reposituren überliefert, wieder andere finden sich in Autographensammlungen und haben manchmal abenteuerliche Wege zurückgelegt, bis sie an ihren heutigen Fundort gelangten.

Schon früh wurden von den Abfertigungen handschriftliche Kopien angefertigt (vgl. dazu Frankfurter Briefe Bd. 1, S.XXI). Um Traditionspflege ging es Speners erstem Biographen, Carl Hildebrand von Canstein, und den Hallenser Pietisten, als sie sich bei den einstigen Korrespondenten Speners oder ihren Erben um die Briefe Speners bemühten und sich gegebenenfalls davon Abschriften anfertigen ließen. Dieser Tatsache verdanken wir die Existenz umfangreicher und wichtiger Bestände im Archiv der Franckeschen Stiftungen (AFSt) in Halle (Saale). Auch gelehrte Sammler mussten sich manchmal mit Kopien von Spenerbriefen zufrieden geben, wie die Uffenbach-Wolfsche Briefsammlung in Hamburg belegt.

Einen besonderen Fall bilden die Abschriften von Spener-Briefen an Elias Veiel und Johann Jakob Schilter in der Universitätsbibliothek Tübingen: Sie stammen aus dem 19. Jahrhundert und wurden von dem Rommelshausener Pfarrer Wilhelm Ludwig Ergenzinger nach den Originalen einer Briefsammlung angefertigt, die von ihrer Besitzerin aufgelöst und deren Stücke einzeln weggegeben werden sollten. Fünf schon vor Ergenzingers Arbeit verschenkte Briefe waren nur in Kurzregesten inhaltlich festgehalten worden. Während die Tübinger Abschriften jahrzehntelang der Spener-Forschung die einzige Kenntnis dieser Briefe vermittelten, stehen diese Briefe heute wieder in den originalen Abfertigungen bereit, nachdem sie auf einer Autographen-Auktion in den Besitz des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt a.M. gekommen sind.

Für einzelne Briefe und Briefexzerpte setzt die Drucküberlieferung unmittelbar ein (vgl. dazu Frankfurter Briefe Bd. 1, S.XXII). Andere Briefe wurden mit vollständigem Text oder als Regest in frühen historischen Zeitschriften oder Briefausgaben wiedergegeben. Die auf diese Weise überlieferten Briefe bilden ein zwar wegen ihrer Authentizität außerordentlich wichtiges, aber vergleichsweise kleineres und hinsichtlich des Korrespondentenkreises eingeschränktes Briefcorpus.

Überlieferung auf Seiten des Absenders

Für die Erschließung und Edition des Spenerschen Briefwechsels ist es ein wertvoller, freilich nicht außergewöhnlicher Sachverhalt, dass wir von vielen Briefen Speners Kopien haben, die er selbst gesammelt und aufbewahrt hat.

Spener hat seit den ersten Jahren seines Frankfurter Seniorats seine Korrespondenz geordnet, die wegen der Bedeutung seines Amtes und seines Wirkungsortes rasch anwuchs, und hat diese Arbeit in Dresden fortgeführt. Um den Überblick über seine gelehrte und „amtliche“ Korrespondenz nicht zu verlieren, bewahrte er neben den an ihn gerichteten Briefen auch die Entwürfe seiner eigenen Briefe auf, schrieb seine Briefe gegebenenfalls vor dem Abgang ganz oder in den wichtigsten Auszügen ab oder ließ sie von einem im Hause lebenden famulus abschreiben. Spener nannte eine solche, zumeist um den Briefanfang und das Briefende gekürzte, Briefkopie ein apographon praecipuarum rerum. Meist schrieb Spener dann selbst den Namen des Empfängers an den oberen rechten Rand der Abschrift und das Datum an das Ende. Schließlich wurden die eingelaufenen Briefe zusammen mit seinen eigenen Antworten in einer Repositur abgelegt.

Obwohl durch testamentarische Verfügung der handschriftliche Nachlass Speners in die Obhut der Theologischen Fakultät in Halle (Saale) übergehen sollte, ist von seiner Repositur vergleichsweise wenig im Original erhalten geblieben. Aber ein großer und wichtiger Teil von Speners Schreiben ging ein in die großen gedruckten Sammlungen von Bedenken und Briefen, deren erste Gruppe, die vier Teile der Theologischen Bedencken, Spener selbst in den Druck gegeben hat, während die zweite und dritte Gruppe, die Consilia et Iudicia Theologica (3 Teile) und die Letzten Theologischen Bedencken (3 Teile), von Speners Nachlaßverwaltern, insbesondere dem Freiherrn Carl Hildebrand von Canstein, herausgegeben wurden.

Spener verfolgte mit der Herausgabe seiner Bedenken und Briefe eine doppelte Absicht: Es ging ihm einerseits um einen Beitrag zur kasuistischen Theologie und andererseits um eine Apologie seiner persönlichen Amtsführung an den drei Orten seines Wirkens seit 1666 (Frankfurt (Main), Dresden und Berlin) und der pietistischen Bewegung insgesamt, die seit den 90er Jahren heftig angefeindet wurde. Die aus kasuistischem und apologetischem Interesse herausgegebenen Sammlungen umfassen daher ganz heterogene Schriften: von umfangreichen und förmlichen theologischen Bedenken über vollständige Briefe bis zu einer Vielzahl von Briefexzerpten oder Brieffragmenten.

Da diese Bände zum größten Teil auf Speners Kopien aus seiner Repositur beruhen, erklärt sich der oft fragmentarische Charakter der Brieftexte sowie die Tilgung der Namen von Personen und Orten nur zum Teil aus dem Vorgang der Veröffentlichung ursprünglich privater Schreiben. Spener hat nämlich in den Fällen, wo das Interesse auf der Entscheidung eines vorgelegten „casus conscientiae“ lag, zum Teil schon in seiner Repositur, zum Teil erst bei der Vorbereitung zum Druck konsequent alle Namen von Personen und Orten getilgt (vgl. dazu u.a. Dresdener Briefe Bd. 1, Brief Nr.122, 142, 182). Bei anderen Briefen hat er es manchmal versäumt, den Namen des Empfängers oder das Datum auf sein apographon einzutragen, so dass er selbst sich später der genauen historischen Situation nicht mehr erinnern konnte. Freilich hat er dann auch beim Druck, besonders in den apologetischen Sektionen seiner Bedenken und Briefe, die Nennung noch lebender Personen weitgehend vermieden, ein Prinzip, das in den postum herausgegebenen Bänden weniger stringent angewandt wurde.

Die große Menge der freilich zumeist gekürzten, anonymisierten und obendrein von den Kopisten und Druckern häufig fehlgelesenen Briefkopien aus Speners Repositur bildet eine wertvolle sachliche Ergänzung zu dem übrigen Briefmaterial, wie es auf Seiten der Empfänger erhalten blieb. Umgekehrt können die detaillierten und authentischen Angaben aus den Abfertigungen dazu dienen, die Masse der nur gedruckt vorliegenden Schreiben historisch einzuordnen und inhaltlich aufzuschließen.

Bei der vorliegenden historisch-kritischen Edition der Briefe Philipp Jakob Speners greifen daher Texterstellung und Kommentar sinnvoll ineinander. Über die Klärung der konkreten Sachfragen und die Ergänzung von Personen- und Ortsnamen hinaus fordert der Kommentar auch die Überprüfung und gegebenenfalls die Berichtigung der überlieferten Texte bis hin zur Identifizierung des Empfängers. So lassen sich die nur im Druck überlieferten Texte ihres überzeitlichen und allgemeinen Charakters, den sie unter anderem durch die Eingliederung in die Casus-conscientiae-Literatur erhalten haben, entledigen und weitgehend an ihren ursprünglichen historischen Ort als Brief zurückführen. Aus den Bedenken werden so wieder Briefe.

Aufgenommene und ausgeschlossene Texte